„Wolf“: Ausgerechnet ein Ferienlager im Wald. Irgendwo in Brandenburg. Mit Natur. Mit Wandern. Mit Klettern. Mit Basteln. Mit Lagerfeuer. Mit Holzhütten. Mit Stockbetten. Mit Mücken. Mit Zecken. Mit Brennnesseln. Mit Dickicht. Mit zu viel von allem, wenn man in der Stadt lebt. Denn Abenteuer haben nur Leute, die anderen Leuten, die keine Abenteuer haben, zeigen wollen, dass sie mutig und stark sind. Willkommen in der Gruppe! Jeder für sich eigen und anders. Und dann ist da noch Jörg…
Abenteuer Wald. Abenteuer Mensch: Für Mutter gibt es gar keine Diskussion. Entweder Ferienlager im Wald oder Ferienbetreuung an der Schule in der ersten Ferienwoche. Sie bekommt keinen Urlaub. Seit sie zu zweit sind und alles zu zweit wuppen, muss Mutter superviel arbeiten. Also dann doch die Natur mit langer Busfahrt, Mückenwolken, Höllenduschhäusern, mit vierzig Gleichaltrigen – fast alle aus der gleichen Stufe – und mit Jörg. Hundertpro hatte der auch keine Wahl. Unvorstellbar, dass Jörg die Ferien freiwillig mit ihnen verbringt, denn es ist so: Mit Jörg will so gut wie niemand etwas zu tun haben. Er verbringt seine Pausen allein und mit ihm verabredet sich niemand nach der Schule.
Jörg ist halt so einer, kennt jeder. Einer, der anders ist. Wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht. All das wäre ja okay, bis jemand aber eben daraus ein Problem macht. Manchmal reicht eine kleinste Kleinigkeit. Jörg ist allein, auf der Hut, vorsichtig. Hält sich nie lange irgendwo auf und bleibt meist an den Rändern. Das ist es vielleicht, was Marko und seine Jungs triggert. Die Geschichte könnte jetzt auf viele Weisen weitergehen. Aber je mehr solcher Details, desto unwahrscheinlicher wird ein Happy End für Jörg. So ist das wohl, wenn man sich daran gewöhnt hat, jemanden zu unterschätzen. Ihn nie ernst nimmt, weil man sich keine Mühe macht, ihn kennenzulernen…
„Wolf“* von Saša Stanišić ist ein stilles, leises, andersiges Buch, das berührt, bewegt und betrifft. Mit Worten voller Ehrlichkeit. Mit Worten voller Schmerz. Mit Worten voller Selbstzweifel. Mit Worten voller Kraft. Mit Worten voller Hoffnung. Aufzeigend, nicht belehrend. Eine Achterbahn der Gefühle. Erzählt aus einer anonymen Perspektive; des Blickwinkels des, der und die Zuschauenden. Und doch mit so feinem Gespür für die darin aufgegriffenen Themen wie Ausgrenzung, Mobbing, Demütigung, Feigheit, Gruppendynamik, Mut, Empathie, Wut und Angst.
Kompensiert mit Humor, der dazu einen starken Kontrast bildet, aber gleichzeitig eine emotionale Distanz schafft, um leichter damit beim Lesen umgehen zu können. Atmosphärisch fantastisch mit gelb-schwarzen Illustrationen von Regina Kehn intensiviert. Vielleicht erklärt all das zusammen die enorme Wirkung, die lange nachhallt. Alles hinterlässt Spuren. Mobbing geschieht durch diejenigen, die aktiv mitmachen und durch diejenigen, die zuschauen und nichts machen. Daher ist es einfach so wichtig, nicht die Augen zu verschließen, sondern hinzusehen, zu sehen.
Eure Janet
PS: Wünschenswert als Ergänzung wären am Ende des Buches Informationen zum Thema Mobbing gewesen, mit beispielsweise weiterführenden Adressen, Links, Unterrichtsmaterial und Literaturtipps.